
Lesenswert!
Michael Herzig
Landstrassenkind
Die Geschichte von Christian und Mariella Mehr
160 Seiten, gebunden
Limmat Verlag
ISBN 978-3-03926-064-5
Stellen wir uns vor: Junge Frau, unverheiratet, wird wegen Schwangerschaft in Hindelbank, dem Schweizer Frauengefängnis, gefangen gehalten. Freigelassen wird sie erst, nachdem sie eingewilligt hat, ihr neugeborenes Kind in eine Pflegefamilie zu geben. Verbrochen hat die junge Frau nichts, ausser dass sie unverheiratet schwanger ist, und eine Jenische ist.
Das ist in der Schweiz doch nicht möglich, werden jüngere Menschen von heute sagen und doch ist es passiert und zwar vor gar nicht so langer Zeit. Ältere Menschen ahnen es: es gab Mitte des letzten Jahrhunderts das Projekt „Kinder der Landstrasse“. Mit diesem Projekt sollten Zigeuner, wie sie damals genannt wurden, sesshaft gemacht und zu „anständigen“ Menschen erzogen werden. Das Projekt der Pro Juventute lief bis in die 1970er-Jahre. Erst durch die Artikel von Hans Caprez im Beobachter wurde das Projekt eingestellt. Die Auswirkungen des Projektes „Kinder der Landstrasse“ waren für die Betroffenen katastrophal. Eine der betroffenen Familien war die Familie Mehr aus Almens.
Mariella Mehr war die junge schwangere Frau in Hindelbank, Christian ihr Sohn. Mariella Mehr schrieb Bücher, die Lesende nie mehr vergessen, eindrücklich und sprachmächtig. Sie wurde eine wichtige Stimme für die Sache der Jenischen.
Christian Mehr, geb. 1966 in Hindelbank, wuchs bei Pflegefamilien und in Kinderheimen auf. Dass das nicht gutgehen konnte, ist nicht verwunderlich. Eine Beziehung zu seiner Mutter Mariella war erst sehr spät möglich.
Michael Herzig, der Autor des vorliegenden Textes, hat mit Christian Mehr lange Gespräche geführt und gibt ihm eine Stimme. Es lohnt sich, dieser Stimme zuzuhören und das Buch zu lesen. Wir erfahren dabei, welche Rolle die damalige Vormundschaftsbehörde Domleschg spielte, welchen Auftrag die Psychiatrische Klinik Waldhaus in Chur sich selber gab, wie einzelne Betreuerinnen der Pro Juventute Leid über die Familien brachten. Und wie die Gesellschaft dabei wegschaute.